Sonntag, 23. März 2014

Unheilig „Lichter der Stadt“



Nach dem diesjährigen Vorausscheid zum Eurovision Song Contest hatte ich das dringende Bedürfnis, mir einmal einen Text des Grafen vorzuknöpfen. Nach einigem Suchen habe ich mich für den Titelsong seines Albums „Lichter der Stadt“ entschieden. Ich hätte auch jeden anderen Song nehmen können, denn die Textbausteine sind so unglaublich austauschbar, dass mich nach einer Weile der Verdacht beschlich, dass er seine Texte mit Kühlschrankmagneten schreibt. Man pinnt die Worte Licht, Zeit, Horizont, Berge, Himmel, Meer, Liebe, Glück, Freiheit und noch eine handvoll andere an den Kühlschrank, wählt einfache Verben und gängige Adjektive dazu aus und schon hat man das Grundmaterial, welches nur noch auf die Melodie geschoben werden muss. Vieles an dieser Technik habe ich schon bei Silbermond beschrieben, bei Unheilig kommt noch die Komponente der Heilsbotschaft dazu. In einer Talkshow sagte einmal ein Gast zum Grafen, er würde Tiefe nur vortäuschen, wobei wir fast schon beim Fazit wären, aber der Reihe nach.

Ich nehme mir die Zeit
Auf die Dächer der Stadt zu gehen
Dem Leben zuzusehen
Still zu stehen

Ich stelle mir das ganz bildlich vor: Bernd Heinrich Graf, müde vom dichten, nimmt sich etwas von seiner kostbaren Zeit und steigt auf das Dach seines Hauses, um dem Leben zuzusehen. Man beachte, dass es hier pauschal das Leben ist, das betrachtet wird, in all seinen Fassetten, Tier und Pflanzenwelt ebenso inklusive wie geopolitische Konflikte.

Alles wirkt so klein
Unscheinbar, entfernt und weit
Das Leben pulsiert hier
Weit weg von mir
Ich lehne mich zurück
Und genieße dieses Glück

Binsenweisheit erleuchte uns! Der Mann steht auf dem Dach und unten ist alles klein. Und weil ein weißer Schimmel kein kleiner Zwerg ist, wird uns das Wort „klein“ noch erklärt: „unscheinbar, entfernt und weit“. Ein wandelndes Synonymlexikon ist er, der Herr Graf. Für die ganz Dummen, erklärt er dann noch, dass das Leben von da oben auf dem Dach aus betrachtet, weit weg von ihm pulsiert. Wir haben es jetzt verstanden. Fast wünschte man sich, dass das lyrische Ich beim Zurücklehnen in die Tiefe stürzen würde, dann wäre der Song hier zu Ende.

Ich nehme mir die Zeit
Auf die Lichter der Stadt zu sehen
Die Dächer entlang zu gehen
Und still zu stehen

Das kommt uns jetzt aber bekannt vor... das sind doch die ersten vier Zeilen noch mal, nur anders. Was man dem Texter sicher nicht vorwerfen kann, ist sprunghafter, zusammenhangloser Wechsel zwischen lyrischen Bildern. Der Mann steht, äh, geht auf dem Dach – basta.

Hier fühle ich mich frei
Der Horizont ist grenzenlos und weit
Die Großstadt unter mir wie ein Lichtermeer

Da hat der Graf in der lyrischen Abschreibschule nicht richtig aufgepasst: Das Klischee hätte eindeutig „der Himmel ist grenzenlos und weit“ lauten müssen, denn der Horizont ist per Definition eine Grenze, nämlich die, zwischen der sichtbaren Erde und dem Himmel, daran ändert auch sein Salbadern nichts.

Es gibt so viele Fragen
Tausend Wünsche und Gedanken
Ich bin mit mir allein
Und schenk den Träumen Zeit

Inzwischen wird es echt schwer, die Augen offen zu halten. Vor lauter Langeweile und müde von den vielen Phrasen möchte man sich selbst vom Dach stürzen.

Ich ordne meine Welt
Der Alltag fliegt an mir vorbei
Fernab der Jagd des Lebens
Fühle ich mich frei
Ich lehne mich zurück
Und genieße dieses Glück

Herrje, das lyrische Ich ordnet seine Welt, während der Alltag vorbei fliegt. Da wird uns das Herz warm und der Mund trocken und wir schauen nach oben, winken dem Grafen auf dem Dach und stürzen uns wieder in die Jagd des Lebens.

Der Rest des Textes besteht aus Worten, die alle schon vorher auftauchten, geringfügig anders kombiniert. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, alle Dopplungen der 154 Worte des Textes (ohne Refrainwiederholungen) zu streichen. Es bleiben dann noch zwei Drittel, rund hundert Worte, übrig.

Fazit: Deutschland bekommt die Stars die es verdient, die passenden Texte inklusive.

6 Kommentare:

  1. Also besser hättest du es nicht treffen können Bodenski. Hast mir den Tag damit wesentlich verschönert. Vielen Dank dafür. An dieser Stelle möchte ich dich eben noch in eigener Sache auf meinen Bericht zum aktuellen Mitgift-Release verweisen. Schau doch mal auf meinem Blog vorbei wenn du Muse hast. Lg.
    Phil

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  3. "Der Horizont ist grenzenlos und weit"

    An dem Teil bin ich beim Hören auch jedesmal hängen geblieben!!!!!

    Du sprichst mir hier wirklich aus der Seele!!! ;)

    Will sagen, dass das so ziemlich genau meine Gedanken zu dem Lied sind, nur dass ich sie nicht so treffend auszudrücken vermochte...:)

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  4. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  5. Auf Facebook habe ich diesen Blog von dir entdeckt. Ich war etwas schockiert muss ich zu geben, weil ich die Lieder des Grafen bis her nicht schlecht fand. Auch wenn ich zu gebe das mir die ersten Alben besser gefallen haben. Da könnte man jetzt diskutieren in wie weit die Qualität von Produkten im Zusammenhang mit Erfolg stehen. Vielleicht sollte das wirklich mal getan werden, denn jeder Künstler bekommt das vorgeworfen und ein neues denken in der Hinsicht sowohl von Fans als auch von Künstlern könnte dienlich sein. Gleichzeitig war ich aber fasziniert von deiner Sicht auf den Text, denn so habe ich noch nicht über den Text nach gedacht. Dafür danke ich.
    Die Frage die mir aus dieser Kritik aber am meisten im Kopf rum geistert lautet wie wird tiefe lyrisch erzeugt? Die Aussage jemand habe dem Grafen vorgeworfen tiefe nur vorzutäuschen, brachte mich auf diese Frage. Ich bin Freund tiefgründiger Texte. Ich habe bis her angenommen das es jener Grund ist warum ich Bands wie Subway To Sally und auch Unheilig unter vielen anderen Bands gern höre. Diese Aussage von dir bringt mich aber dazu mein Weltbild von tiefgründigkeit auf den Kopf zu stellen. Das ist gut denn Selbstverständlichkeiten neu zu über denken und neu zu definieren bringt Fortschritt. Ich werde deine Kritik weiter verfolgen und auch andere Quellen zu rate ziehen. Vielleicht finde ich die Antwort....

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  6. Genaugenommen ist ein Horizont ein Kreis.
    Und der darf zumindest auch weit sein.
    Ansonsten sehr treffend.

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