Dienstag, 19. April 2016

Christina Stürmer „Ich lebe“


Mit „Ich lebe“ fing für Christina Stürmer 2003 alles an. Die junge Sängerin wurde in diesem Jahr zwar nur Zweite in der österreichischen Castingshow Starmania, aber für einen Plattenvertrag reichte es trotzdem. Die hier zu besprechende Single ging in Österreich durch die Decke und belegte dort neun Wochen hintereinander den ersten Platz. In Deutschland wurde das Lied erst zwei Jahre später veröffentlicht, sorgte aber auch in Deutschland dafür, dass Christina der Weg für eine beachtliche und andauernde Karriere geebnet wurde. 2006 bekam sie dafür sogar den Echo Künstlerin Rock/Pop National und nur ein Schelm würde an dieser Stelle fragen, ob in den Büros der Plattenindustrie noch Karten von Deutschland in den Grenzen von 1942 hängen.
Den Song „Ich lebe“ habe ich sicherlich schon oft gehört und wie es bei fluffigen Kompositionen dieser Art oft ist, habe ich nie wirklich auf den Text geachtet. Auf der Suche nach neuem Material für meine Textkritiken fiel mir dann irgendwann auf, dass der Text es in sich hat. Ein kurzer Blick in die GEMA Datenbank verrät, dass hier drei Komponisten eingetragen sind, die auch alle als Textdichter aufgeführt sind, plus ein zusätzlicher Texter. Viele Köche also.

Es lohnt sich, zunächst weiter unten den Refrain zu betrachten. Die erste Zeile „Ich lebe, weil du mein Atem bist“ bildet den Kern der Textidee. Der Refrain endet mit den Worten „Du bist für mich mein zweites ich. Ich lebe.“ Damit wird eine saubere Klammer geschlossen. Im Refrain stehen bekanntlich die wichtigen Sachen. Wir haben es also mit einem Text zu tun, in dem das lyrische Ich eine Abhängigkeit von einem Partner propagiert. Der Text versucht allerdings, den Rahmen eines simplen Liebesliedes zu sprengen. Die Texter vollziehen den Schritt von der Abhängigkeit zur Sucht. Das Lied enthält einige seltsame, negative Konnotationen, die an einigen Stellen – zumindest bei mir – für gehörige Verwirrung sorgen. Man hat die Künstlerin Christina Stürmer offensichtlich als junge Frau inszenieren wollen, die voller Widersprüche steckt und sich gängigen Klischees entzieht.

Du bist die Qual
Ich war schon immer Masochist
Bringst mir kein Glück
Ich bin und bleibe Pessimist
Schmeckst bittersüss
Saugst mich aus wie ein Vampir
Ich bin verhext
Komm einfach nicht mehr los von dir

Solch ein Aneinanderreihungstext ist für einen Texter eine höchst dankbare Aufgabe. Es reicht eine Grundidee, die man nur durchdeklinieren muss. Allerdings ist die Deklination hier ein holpriges Thema. Es werden Paare gebildet, die alle unter dem Dach Beziehung/Abhängigkeit/Sucht funktionieren sollen.
Beim ersten Paar wird ein abstrakter Begriff auf eine Person übertragen. Abstrakte Begriffe sind tückisch, denn weil sie abstrakt sind, lassen sie sich nur sehr schwer auf Dinge oder Personen übertragen. Hausaufgabe: Bilde Paare mit Freiheit, Schicksal, Zweifel, stelle dir die Qual als Person vor.
Da funktioniert das zweite Paar schon besser, denn der Partner ist nun nicht das Glück, nein, er bringt es nicht mit und das passt gut zum Pessimisten.
Die dritte Paarung geht dafür meiner Meinung nach voll nach hinten los. Wieso weiß das lyrische Ich, dass der Problempartner bittersüß schmeckt, wenn der doch der Vampir ist, der am lyrischen Ich saugt? Antwort: Das lyrische Ich ist auch ein Vampir. Klar. Und es klebt verhext (Bibi Blocksberg, Hogwarts und Baba Jaga lassen grüßen) am Problempartner.

Ich lebe
Weil du mein Atem bist
Bin müde
Wenn du das Kissen bist
Bin durstig
Wenn du mein Wasser bist
Du bist für mich mein zweites Ich
Ich lebe

Auf die Klammer (Anfang und Ende des Refrains) habe ich schon hingewiesen. Dazwischen finden wir – wie in der Strophe – weitere Paarungen. Was mich stört ist die Wenn-Konstruktion, bei der die Kausalität ausgehebelt wird. Es wäre ja schön, wenn der Partner das Kissen ist, wenn man müde ist, oder das Wasser, wenn man Durst hat. Aber wieso ist man müde wenn der Partner das Kissen ist? Der ein oder andere wird sagen: Stört mich nicht, ich verstehe was gemeint ist. Derjenige müsste aber auch folgende Logik akzeptieren: Ich habe Durchfall, wenn du das Imodium akut bist.

Du bist das Gift
Doch das Gegengift wirkt gegen mich
Du bist das Geld
Ich geb dich aus es lohnt sich nicht
Du bist der Rausch
Und ich will noch mehr Alkohol
Du bist die Welt
Wo Schatten Licht gefangen hält

Inzwischen dürften alle verstanden haben, worauf ich hinaus will. Wenn man die Zeilen genau liest und auf ihre Alltagsbelastbarkeit hin überprüft, schleichen sich Falten auf die Stirn und das ist nicht gut für jugendlich frisches Aussehen. Am besten gefällt mir, dass der Partner die Welt ist, wo Schatten Licht gefangen hält. Die Schlüsselwörter klappern hier wieder einmal schön aufgeregt durcheinander und wenn man so etwas nebenbei hört könnte man fast denken es wäre Poesie. Leider ist es nur sinnentleertes Geschwurbel.

Ich steh' hier allein, gedankenleerer Horizont
Du bist verliebt – wie schön für dich, warum sagst du's nie

Nach einem zweites Refrain kommt ein schöner C-Part. Entweder wurde der im Studio von Christina selbst improvisiert oder es war schon spät und man hatte sich an der ganzen Pseudopoesie schon so verausgabt, dass es nur noch für das grundsolide „ich stehe hier allein“ reichte. Und was macht man wenn man allein ist? Man schaut auf einen gedankenleeren Horizont, von dem nur Komponisten/Texter wissen, was das bitte sein soll. Ich vermute es befand sich zu diesem Zeitpunkt in ihren Köpfen: Ein geistiger Horizont, leer von irgendwelchen originellen Gedanken.
Die Zweite Zeile ist erfrischend echt und lebensnah und damit seltsam fremd in diesem Text.

Komm lebe
Weil ich dein Atem bin
Sei müde
Wenn ich dein Kissen bin
Sei durstig
Wenn ich dein Wasser bin
Ich bin für dich dein zweites Ich

Ich lebe, bin müde, bin durstig,
Du bist für mich mein zweites Ich

Wie es sich für ein waschechtes zweites Ich gehört kann alles was bisher gesagt wurde auch gespiegelt werden. Auf diesen Kunstgriff wollte das Autorenteam nicht verzichten.

Fazit: Das Verhältnis von lyrischen Ich und Problempartner ist den ganzen Song über schwierig. Schwierig im vermeintlich echten Leben, von dem der Text abgeschaut sein soll und schwierig in der Interpretation.

1 Kommentar:

  1. Eine kleine Anekdote: Zu Zeiten, als ich mit Freunden unsere Abizeitung erstellte, war dieser Track tagelang unser Highlight, nur unterbrochen durch Simpsons-Folgen-Pausen. Der Zähler stand nach wenigen Tagen auf 347 Wiederholungen.
    Es etablierte sich, den Kollegen die grade nicht anwesend waren, liebevolle Post-Its zu schreiben und die Monitore voll zu kleben. "Muss kacken, wenn du die Schüssel bist", "Muss kotzen, wenn du die Breche bist", "Muss nach Hause, wenn du das Mittagessen bist".
    Irgendwie waren Christina und wir dann doch keine so guten Freunde, nach all der Zeit. Die Post-Its hab ich nach fast 10 Jahren immer noch und Ich Lebe bleibt ein "gern" gegrölter Partyhit.

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