Dienstag, 15. Juli 2014

Dota Kehr „Wo soll ich suchen“

Die GEMA-Stiftung vergibt seit 1989 jährlich eine Textdichterauszeichnung, den Fred-Jay-Preis. Fred Jay, eigentlich Friedrich Alex Jacobson (1913-1988), war ein österreichischer Komponist und Textdichter, der seine produktivste Zeit in den wortwörtlich goldenen Schlagerjahren zwischen den frühen 70ern und den frühen 80ern hatte. Er schrieb für Howard Carpendale (87 Titel), Christian Anders (52 Titel), Boney M. (36 Titel) oder Jürgen Marcus (27 Titel) und etliche andere Größen der Branche. Sein größter Hit ist übrigens „When A Child Is Born“, der sich allein in Deutschland in Michael Holms deutscher Fassung „Tränen lügen nicht“ eine Million Mal verkaufte. Die englische Version gilt als Weihnachtsklassiker, ist in 120 Sprachen erschienen und viele Millionen Mal über den Ladentisch gegangen. Da ist der auf 15.000 Euro dotierte und nach ihm benannte Preis eigentlich ziemlich knickerig.

Die Berliner Sängerin, Liedermacherin und Musikproduzentin Dorothea („Dota“) Kehr dürfte sich trotzdem wie Bolle auf dem Milchwagen gefreut haben, denn auf sie fiel in diesem Jahr die Wahl der Jury der GEMA-Stiftung.
Grund genug einmal einen Blick auf ihre Texte zu werfen. Ich habe nicht lange herumgesucht und mich für „Wo soll ich suchen“ entschieden.

Wo soll ich suchen“ ist der Titelsong ihres aktuellen Albums, das elfte übrigens, das die promovierte Ärztin bisher veröffentlichte.

Es regnet auf stehengelassene Tassen und Teller
und ein zweites Schiffchen sticht in See.
Ich sitz auf meinem Steg und werfe Steine,
es regnet auf den Turm und auf den Klee.
Es regnet Funken durch die Kabel
und Menschen durch die Zeit.
Wo soll ich dich suchen?
Wo soll ich dich suchen?

Es ist selten, dass mich ein Text so anspricht, ohne dass ich genau sagen könnte, woran es eigentlich genau liegt. An der Oberfläche ist alles ganz klar und eindeutig. Sie Szenerie ist schnell zu erfassen und plastisch: Das lyrische Ich sitzt auf einem Steg, es regnet. Irgendwo steht ein Turm, es gibt stehengelassene Tassen und Teller, Stromkabel... Vielleicht ging eben eine Gartenparty zu Ende. Unter der Oberfläche aber lauert das Ungesagte, das Fremde, ein Geheimnis. Was hat es zum Beispiel mit dem zweiten Schiffchen auf sich, welches in See sticht? Welches war das Erste? Setzt das lyrische Ich Papierboote ins Wasser? Verlassen die Partygäste mit Kähnen das Ufer? Funken regnen durch Kabel, wie Menschen durch die Zeit? Und wer wird hier eigentlich gesucht?
Ich mag es sehr, wenn einfache Wörter sich zu komplexen Aussagen verdichten. Dorothea Kehr hat ein Händchen dafür. Schön ist auch der zwar unsaubere aber dennoch charmante Binnenreim „stehengelassene Tassen“.

Da wo die feinen Bläschen aufsteigen?
Im Moor, da wo die Irrlichter sind?
Am Himmelsstrand auf meinem Badetuch im warmen Gras?
Wo soll ich dich suchen?

Das ist der Refrain, und der Eindruck, dass hier etwas seltsam düsteres vorgeht, verstärkt sich. Der Landschaft mit See und Turm wird ein Moor hinzugefügt, später wird das Bild noch weiter ausgemalt werden. Nicht weit von dem Ort meiner Kindheit lag der Wald Katharinenholz und in ihm befanden sich die Düstere Teiche. Alles erinnert mich daran. Und dort ihm Moor, wo alles nach Verwesung riecht und die Vergänglichkeit zu Hause ist, dort soll das lyrische Ich suchen? Da, wo die Irrlichter sind, die das lyrische Ich in die Irre führen und in den Tod ziehen könnten? Oder lieber am Himmelsstrand? Ich habe kein Bild für Himmelsstrand parat. Blauer Himmel plus Strand und Sonne gleich Himmelsstrand? Ein Badetuch im warmen Gras? Das Paradies? Eine schöne Erinnerung? Ein Geheimnis.

Und klar, wenn ich allein bin, schließ ich die Tür ab.
Und ja, wenn ich Fahrrad fahre, fahr ich mit Licht.
Ich vermisse ein paar Dinge, doch dafür hab
ich andere gefunden. Also, sorge dich nicht.
Und bei Gewitter geh ich nicht baden.
Und bei Sturm schwimm ich nicht zu weit raus.
Und meide die Eichen und finde
den anderen unter den Gleichen.
Wo soll ich dich suchen?
Wo soll ich dich suchen?

Die zweite Strophe ist ähnlich strukturiert wie die erste. Handwerklich toll ist der Kreuzreim der ersten vier Zeilen und das Enjambement (der Verssprung) von Zeile drei auf Zeile vier.
Inhaltlich versichert das lyrische Ich, dass es ganz normale alltägliche Dinge so machen wird, wie es das gelernt hat. So als würde man z.B. der Mutter sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Aber wer ist der Andere unter den Gleichen? Der Text kreist um verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Geht es um Verlust durch Tod, geht es um die Suche nach der großen Liebe? Oder ist das alles nur Teil einen Ornamentes, welches wir nicht sehen können, weil wir zu nah sind?

Da wo die feinen Bläschen aufsteigen?
Im Moor, da wo die Irrlichter sind?
Da wo die Weiden sich übers Wasser neigen,
und in den Wellentälern bei Wind?
Da wo der Wald am allertiefsten ist am Steilhang?
Da wo die Vögel plötzlich aufgeflogen sind?
Am Himmelsstrand auf meinem Badetuch im warmen Gras?
Wo soll ich dich suchen?

Es kommt der zweite Refrain und wer dachte, das Pulver wäre verschossen, irrte. Die Verse sind pure Poesie, eindringlich schön, einfach und handwerklich gelungen. Sauberer Kreuzreim der ersten vier Zeilen plus Binnenreim (Weiden, die sich übers Wasser neigen). Der Szenerie werden Wind, ein tiefer Wald, ein Steilhang und auffliegende Vögel hinzugefügt. Man wähnt sich in einem Gemälde von Caspar David Friedrich, aber alles ist auch Symbolik und noch immer Geheimnis.

Und von meinem Turm aus seh ich die Welt an.
Es regnet Tränen durchs Gesicht.
Unter vielfarbigen Wolkenstreifen
geh ich aus dem Haus
und bin draußen, als der Himmel aufbricht.
Wo soll ich suchen?
Wo soll ich dich suchen?

„Von meinem Turm seh ich die Welt an“. Plötzlich wird der Turm aus der Landschaft genommen und es wird der Turm des lyrischen Ichs. Der Turm ist in der Symbolik ein kraftvolles aber auch vielschichtiges Bild. Zum Himmel aufragend ist er ein Wegweiser, eine Verbindung zur oberen Welt. Der Turmbau zu Babel ist ein Symbol für den Hochmut und die Maßlosigkeit der Menschen. Der Elfenbeinturm ist die Metapher eines geistigen Ortes der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt. Aber auch die verwunschene Prinzessin, die gesucht und gefunden werden will, harrt aus auf dem Turm und wartet auf Rettung.
Im Verlauf der Strophe wird es für meinen Geschmack kurz etwas zu dick, denn Tränen, die durch das Gesicht regnen, hätte ich hier nicht mehr gebraucht, aber irgendwie geht das in Ordnung, genauso wie der aufbrechende Himmel, der uns einen Hauch Zuversicht vermittelt.

Fazit: Großes Kopfkino, erzeugt mit einfachen Worten, handwerklich gut und dabei originell. Tränen, die durchs Gesicht regnen, lügen nicht.


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