Die GEMA-Stiftung vergibt seit 1989
jährlich eine Textdichterauszeichnung, den Fred-Jay-Preis. Fred Jay,
eigentlich
Friedrich Alex Jacobson (1913-1988),
war ein österreichischer Komponist und Textdichter,
der seine produktivste Zeit in den wortwörtlich goldenen
Schlagerjahren zwischen den frühen 70ern und den frühen 80ern
hatte. Er schrieb für Howard Carpendale (87 Titel), Christian Anders
(52 Titel), Boney M. (36 Titel) oder Jürgen Marcus (27 Titel) und
etliche andere Größen der Branche. Sein größter Hit ist übrigens
„When A Child Is Born“, der
sich allein in Deutschland in Michael Holms deutscher
Fassung „Tränen lügen nicht“ eine
Million Mal verkaufte. Die englische Version gilt als
Weihnachtsklassiker, ist in 120 Sprachen erschienen und viele
Millionen Mal über den
Ladentisch gegangen. Da ist
der auf 15.000 Euro dotierte und nach ihm benannte Preis eigentlich
ziemlich knickerig.
Die
Berliner Sängerin, Liedermacherin und Musikproduzentin Dorothea
(„Dota“) Kehr dürfte sich trotzdem wie Bolle auf dem Milchwagen gefreut haben, denn
auf sie fiel
in diesem Jahr die Wahl der
Jury der GEMA-Stiftung.
Grund genug einmal
einen Blick auf ihre Texte zu werfen. Ich habe nicht lange
herumgesucht und mich für „Wo soll ich suchen“ entschieden.
„Wo
soll ich suchen“ ist der Titelsong ihres aktuellen Albums, das
elfte
übrigens, das die promovierte Ärztin bisher veröffentlichte.
Es regnet auf stehengelassene Tassen
und Teller
und ein zweites Schiffchen sticht in
See.
Ich sitz auf meinem Steg und werfe
Steine,
es regnet auf den Turm und auf den
Klee.
Es regnet Funken durch die Kabel
und Menschen durch die Zeit.
Wo soll ich dich suchen?
Wo soll ich dich suchen?
Es ist selten, dass mich ein Text so
anspricht, ohne dass ich genau sagen könnte, woran es eigentlich
genau liegt. An der Oberfläche ist alles ganz klar und eindeutig.
Sie Szenerie ist schnell zu erfassen und plastisch: Das lyrische Ich
sitzt auf einem Steg, es regnet. Irgendwo steht ein Turm, es gibt
stehengelassene Tassen und Teller, Stromkabel... Vielleicht ging eben
eine Gartenparty zu Ende. Unter der Oberfläche aber lauert das
Ungesagte, das Fremde, ein Geheimnis. Was hat es zum Beispiel mit dem
zweiten Schiffchen auf sich, welches in See sticht? Welches war das
Erste? Setzt das lyrische Ich Papierboote ins Wasser? Verlassen die
Partygäste mit Kähnen das Ufer? Funken regnen durch Kabel, wie
Menschen durch die Zeit? Und wer wird hier eigentlich gesucht?
Ich mag es sehr, wenn einfache Wörter
sich zu komplexen Aussagen verdichten. Dorothea
Kehr hat ein
Händchen dafür. Schön ist auch der zwar unsaubere aber dennoch
charmante Binnenreim „stehengelassene Tassen“.
Da wo die feinen Bläschen
aufsteigen?
Im Moor, da wo die Irrlichter sind?
Am Himmelsstrand auf meinem Badetuch
im warmen Gras?
Wo soll ich dich suchen?
Das ist der Refrain, und der Eindruck,
dass hier etwas seltsam düsteres vorgeht, verstärkt sich. Der
Landschaft mit See und Turm wird ein Moor hinzugefügt, später wird
das Bild noch weiter ausgemalt werden. Nicht weit von dem Ort meiner
Kindheit lag der Wald Katharinenholz und in ihm befanden sich die
Düstere Teiche. Alles erinnert mich daran. Und dort ihm Moor, wo
alles nach Verwesung riecht und die Vergänglichkeit zu Hause ist,
dort soll das lyrische Ich suchen? Da, wo die Irrlichter sind, die
das lyrische Ich in die Irre führen und in den Tod ziehen könnten?
Oder lieber am Himmelsstrand? Ich habe kein Bild für Himmelsstrand
parat. Blauer Himmel plus Strand und Sonne gleich Himmelsstrand? Ein
Badetuch im warmen Gras? Das Paradies? Eine schöne Erinnerung? Ein
Geheimnis.
Und klar, wenn ich allein bin,
schließ ich die Tür ab.
Und ja, wenn ich Fahrrad fahre, fahr
ich mit Licht.
Ich vermisse ein paar Dinge, doch
dafür hab
ich andere gefunden. Also, sorge
dich nicht.
Und bei Gewitter geh ich nicht
baden.
Und bei Sturm schwimm ich nicht zu
weit raus.
Und meide die Eichen und finde
den anderen unter den Gleichen.
Wo soll ich dich suchen?
Wo soll ich dich suchen?
Die zweite
Strophe ist ähnlich strukturiert wie die erste. Handwerklich toll
ist der Kreuzreim der ersten vier Zeilen und das Enjambement
(der Verssprung) von Zeile drei auf Zeile vier.
Inhaltlich versichert das lyrische Ich,
dass es ganz normale alltägliche Dinge so machen wird, wie es
das gelernt hat. So als würde man z.B. der Mutter sagen, dass sie sich
keine Sorgen machen muss. Aber wer ist der Andere unter den Gleichen?
Der Text kreist um verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Geht es um
Verlust durch Tod, geht es um die Suche nach der großen Liebe? Oder
ist das alles nur Teil einen Ornamentes, welches wir nicht sehen
können, weil wir zu nah sind?
Da wo die feinen Bläschen
aufsteigen?
Im Moor, da wo die Irrlichter sind?
Da wo die Weiden sich übers Wasser
neigen,
und in den Wellentälern bei Wind?
Da wo der Wald am allertiefsten ist
am Steilhang?
Da wo die Vögel plötzlich
aufgeflogen sind?
Am Himmelsstrand auf meinem Badetuch
im warmen Gras?
Wo soll ich dich suchen?
Es kommt der zweite Refrain und wer
dachte, das Pulver wäre verschossen, irrte. Die Verse sind pure
Poesie, eindringlich schön, einfach und handwerklich gelungen.
Sauberer Kreuzreim der ersten vier Zeilen plus Binnenreim (Weiden,
die sich übers Wasser neigen). Der Szenerie werden Wind, ein tiefer
Wald, ein Steilhang und auffliegende Vögel hinzugefügt. Man wähnt
sich in einem Gemälde von Caspar David Friedrich, aber alles ist
auch Symbolik und noch immer Geheimnis.
Und von meinem Turm aus seh ich die
Welt an.
Es regnet Tränen durchs Gesicht.
Unter vielfarbigen Wolkenstreifen
geh ich aus dem Haus
und bin draußen, als der Himmel
aufbricht.
Wo soll ich suchen?
Wo soll ich dich suchen?
„Von meinem Turm seh ich die
Welt an“. Plötzlich wird der Turm aus der Landschaft genommen und
es wird der Turm des lyrischen Ichs. Der Turm ist in der Symbolik ein
kraftvolles aber auch vielschichtiges Bild. Zum Himmel aufragend ist
er ein Wegweiser, eine Verbindung zur oberen Welt. Der Turmbau zu
Babel ist ein Symbol für den Hochmut und die Maßlosigkeit der
Menschen. Der Elfenbeinturm ist die Metapher eines geistigen Ortes
der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt. Aber auch die
verwunschene Prinzessin, die gesucht und gefunden werden will, harrt
aus auf dem Turm und wartet auf Rettung.
Im Verlauf der Strophe wird es für
meinen Geschmack kurz etwas zu dick, denn Tränen, die durch das
Gesicht regnen, hätte ich hier nicht mehr gebraucht, aber irgendwie
geht das in Ordnung, genauso wie der aufbrechende Himmel, der uns
einen Hauch Zuversicht vermittelt.
Fazit: Großes
Kopfkino, erzeugt mit einfachen Worten, handwerklich gut und dabei
originell. Tränen, die durchs Gesicht regnen, lügen nicht.
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