Tim Bendzko hatte mit „Nur noch kurz
die Welt retten“ 2011 einen Riesenhit. Und womit? Mit Recht. Der
freche kleine Ohrwurm hatte nicht nur musikalische Qualitäten, auch
der Text traf auf originelle Art den Nerv der Zeit.
Obwohl sein zweites Album „Am
seidenen Faden“ inzwischen mit Platin veredelt wurde, konnte Tim
nicht ganz an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen. Im letzten
Dezember wurde die Langrille dann mit ganzen 12 weiteren Liedern
aufgehübscht und als Limited Re-Edition erneut veröffentlicht.
Wahnsinn, was Leuten bei Plattenfirmen so alles einfällt. Nun fragt
man sich, warum man bei 12 neuen Songs nicht gleich ein neues Album
veröffentlicht. Womit fragt man das? Mit Recht. Die vorliegende
Single „Unter die Haut“ deutet die Lösung des Rätsels an: Das
Material war wohl nicht so dolle. Auch diesmal habe ich in der
Datenbank der GEMA nachgesehen und siehe da: Musik und Text sind
nicht fremdgemacht sondern selbst eingebrockt. Und wie immer, wenn in
der aktuellen Medienwelt die Karriere ein Duett braucht und ungemein
viel Quatsch gesungen wird, ist meine besondere Freundin Cassandra
Steen zur Stelle, die offenbar einen schlechten Einfluss auf die
Gehirne deutscher Singer-Songwriter hat.
Das geht mir unter die Haut,
wie ein warmer Sommerwind,
ich habe es erst nicht geglaubt,
dass ich hier nicht alleine bin.
Es gibt über 100 verschieden
deutschsprachige Titel, die uns unter die Haut gehen sollen. Auch
Stefanie Hertel hat zum Beispiel einen geschrieben. Diese oft
benutzte Wortkombination wird immer gerne genommen, wenn ein
besonders intensives Gefühl beschrieben werden soll. Alternativ wird
zur Abwechslung auch „das hat mich sehr berührt“
verwendet.
Nun haben wir am Anfang der zweiten
Zeile das schöne Wörtchen „wie“ und damit ein
Vergleichswort. Per Definition: Wenn zwei Personen oder Sachen in
einem Vergleich gleich sind, verwendet man den Positiv und die
Vergleichswörter „so“ oder
„wie“, die man mit „genau“ betonen kann.
Demnach ist also das besungene Gefühl
genau wie warmer Sommerwind. Wäre ich kleinlich, würde ich
fragen, ob man den warmen Sommerwind nicht auf, statt unter der Haut
spürt. Erzeugt warmer Sommerwind wirklich ein so intensives Gefühl,
dass man es mit der Einsicht, dass es die große Liebe doch da
draußen gibt, gleichsetzen kann? Für meinen Geschmack ist das lasch
und fade oder eben Pop.
Gäbe es in den beiden letzten Zeilen
des Refrains nicht das Adverb „erst“ würde das gesamte
Lied kollabieren und aus den Fugen geraten. Man muss schon sehr
aufmerksam sein und seine ganzen interpretatorischen Fähigkeiten
aufwenden, um zu verstehen, dass das lyrische Ich zunächst
geglaubt hat, dass es alleine ist und als es merkte, dass es nicht
alleine ist, dies zunächst nicht glauben konnte, bis es endlich dann
doch geglaubt hat, dass es nicht alleine ist.
Im Grunde waren wir doch schon auf
Einsamkeit trainiert
und haben jeden Wink mit dem
Zaunpfahl ignoriert,
wir schotten um uns all die leeren
Hüllen
und die leeren Hüllen versperrten
uns
die Sicht auf ein Leben, das wir
einst erstrebten,
doch wir halten daran fest.
Im Vortrag des Sängers gibt es eine
deutliche Pause zwischen „Wink“ und „mit dem Zaunpfahl“.
Macht Euch bitte mal die Freude und fragt: „Womit haben sie den
Wink ignoriert?“ Antwort: „Mit dem Zaunpfahl.“ Natürlich ist
das so nicht gemeint, aber unfreiwillig komisch kann so eine stehende
Redewendung durchaus sein.
Ich muss noch einmal zum großen Ganzen
zurück: Das Überthema ist doch „Liebe“. Eigentlich war man
immer einsam und dann, upps, kommt die große Liebe um die Ecke, man
freut sich wie warmer Sommerwind, blickt zurück und denkt sich: „Oh
man, was war ich doch blind und unzuversichtlich, da hab ich doch die
ganzen Winke mit den Zaunpfählen übersehen.“ Wer oder was hat
denn da gewinkt und welche Botschaften sollten dabei übermittelt
werden? Das frage ich mich. Und womit?
Zeile drei in dieser Strophe ist mir
die liebste von allen! Wir schotten um uns leere Hüllen.
Herrlich. Schotten sind noch immer Highlander unter englischer Krone,
es kann sich also nur um eine Ableitung des schönen Wortes
„abschotten“ handeln, welches aus dem Schiffbau stammt, wo
etwas mit einem Schott versehen, also dicht gemacht wird. Das Verb
„schotten“ gibt es nicht. In einer Kombination, in der man
leere Hüllen um sich schottet ist es einfach
nur peinlich. Überhaupt: Diese leeren Hüllen... Das ist doch wieder
so ein aufgeblasenes, esoterisches Psychogequake ohne jeden Inhalt!
Und es wird immer schlimmer, denn diese leeren Hüllen, von denen wir
nicht wissen wovon sie eigentlich leer sind, versperren dem lyrischen
Doppelich die Sicht auf ein Leben, das sie einst erstrebten, doch sie
halten daran fest – an diesem Leben. Dafür sollte es die rote
Karte geben oder wenigstens einen Abzug bei der GEMA Ausschüttung,
welcher dann in eine Stiftung zur Bekämpfung von Legasthenie
fliessen könnte.
Das geht mir unter die Haut,
wie ein warmer Sommerwind,
ich habe es erst nicht geglaubt,
dass ich hier nicht alleine bin.
Das geht mir unter die Haut,
dass wir verbunden sind,
es zieht mich immer weiter gerade
aus,
bis ich zu Hause bin.
Erneuter Refrain, verlängert und mit
der Information versehen, dass es den Protagonisten immer weiter
gerade aus zieht, bis er zu Hause ist. Nach dem ganzen Unsinn mit den
Schotten und den Hüllen ist das erfrischend wissenschaftlich, denn
jedes Kind weiß, dass die Erde rund ist und wir wieder zu Haus
ankommen, wenn wir nur lange genug gerade aus laufen. Für die
aufkeimende Beziehung mit der großen Liebe, an die man eben noch gar
nicht glaubte, ist das sicherlich eine Belastungsprobe, denn da ist
man eine Weile unterwegs. Ob unsere Protagonisten dieses Problem
lösen werden? Schauen wir weiter.
Denn alles was wir sind
gibt leeren Worten ihren Sinn,
ganz egal wie es klingt,
weil du auch ohne Worte unsere
Lieder singst.
Danke für diese Worte. Endlich ergibt
hier alles einen Sinn, denn auch wenn wir in diesem Lied nur leere
Worte finden und ganz egal wie banal sie klingen: Auch ohne Worte,
zum Beispiel auf La-la-la gesungen, wäre es noch ein erfolgreiches
Duett und genauso inhaltsreich. Und weil die Interpreten sind, was
sie sind, nämlich Popstars, müssen sie immer weiter singen, allein,
in Duetten und im Chor, komme was da wolle. Nie zuvor wurde in einem
gefühligen, selbstgedichteten deutschen Lied so offen und
schonungslos über die eigene Belanglosigkeit gesungen. Respekt.
Fühlst du es auch? Lass alles
stehen wo es ist
und wir reißen aus,
das ist alles was ich brauch.
Wenn ich in Sicherheit bin dann
fühlst du es bestimmt.
Aha. Die Reise um
die Welt, auf der man immer gerade aus unterwegs ist, soll also
gemeinsam gelingen und zwar, indem man gemeinsam ausreißt, nicht zu
verwechseln mit ausreisen, denn dann würde man ja nicht
wieder kommen und Deutschland hätte den Verlust von gleich zwei
Interpreten zu verkraften. Interessant, dass nur alles was stehen
kann dort bleiben darf wo ist ist, alles was liegen kann müsste
demnach mitgenommen werden.
Der Vers endet mit
einer seltsamen Aussage. Woher will das eine lyrische Ich wissen,
dass das andere lyrische Ich fühlen wird, wenn es in Sicherheit ist?
Und in Sicherheit wovor? Zombofanten, die Zeugen Jehovas, Kritiker
die solche Texte wörtlich nehmen? Womit frage ich das wohl?
Fazit: Texte dieses Kalibers gehen mir
nicht unter die Haut, sondern auf den Sack.
Großartig! Ich habe mich wieder sehr amüsiert. Deine Kritik ist in diesem Fall sprachästhetisch hochwertiger als das "Opfer". :)
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