Montag, 5. Mai 2014

Tocotronic „Kapitulation“

Bisher habe ich mich relativ lustvoll an schlechten Texten abgearbeitet oder auch sprödes Lob verteilt. Beim hier vorliegenden Text ist die Sache nicht so einfach. Handwerklich gibt er nicht viel her, aber die Band kann, wenn man das Œuvre betrachtet, durchaus auch sauber reimen und poetisch sein. Im vorliegenden Fall findet man davon wenig, aber vielleicht ist das Manko ja Programm.

Das Gesamtpaket Tocotronic ist für mich leider immer ein Abturner gewesen. Zu sehr wurde das Bild vom leicht anämischen Intellektuellen strapaziert, der reflexartig dementierte, wollte man bei ihm eine Haltung verorten. Ihre Vorliebe für schief geschrammelte Gitarren tat ein Übriges. Auch wenn die Band seit einiger Zeit aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, so wirkt und webt sie auch heute noch.
Mitte der 90er Jahre spülte eine weitere Neue-Deutsche-Welle, die den Stempel Hamburger Schule bekam (ein Grund, sofort zu dementieren), die Band an die Spitze der Charts. Erheiternd und konsequent zugleich, dass die Band 1996 einen ihr zugedachten Comet in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ ablehnte. Der Titel des damals aktuellen Albums lautete schließlich nicht „Wir kommen, um abzusahnen“ sondern „Wir kommen, um uns zu beschweren“. Dafür gilt es, Respekt zu zollen.
Bei all den sehr bemühten Anstrengungen, weder bemüht noch angestrengt zu wirken, ist es den Textern (die Band komponiert und schreibt im Kollektiv, wobei Sänger Dirk von Lowtzow federführend sein dürfte) gelungen, einige überstrapazierte Themen neu zu interpretieren. Der dabei angewendete Kunstgriff ist so einfach wie wirkungsvoll: Man dreht das Klischee auf links, krempelt das Innere nach außen, bürstet es gegen den Strich. Schauen wir uns „Kapitulation“ genauer an:

Und wenn du kurz davor bist
Kurz vor dem Fall
Und wenn du denkst
"Fuck it all!"
Und wenn du nicht weißt
Wie soll es weitergehen:

Kapitulation

Ziemlich unspektakulär eigentlich. Die Versatzstücke sind abgegriffen und austauschbar: Keine Ahnung wie es weiter gehen soll, Niemand ist da, der einen versteht, man ist traurig und allein (siehe weitere Strophen). Normalerweise müsste im Refrain eine Durchhalteparole kommen. So etwas wie: Nach Regen kommt die Sonne, Zeit heilt alle Wunden, es kann und wird nur besser werden. Die Toten Hosen haben es mit „Steh auf, wenn du am Boden bist“ vorgemacht (ein Song der geradezu danach schreit, hier besprochen zu werden).
Aber es kommt das Wort „Kapitulation“. Ein Grund zum Hinhören und Nachdenken. Für mich steckt da ziemlich viel drin. Wir stemmen uns stetig gegen die Widrigkeiten des Alltags, kämpfen um Glück und Erfolg und wenn es mal nicht so gut läuft, dann ist das ein Grund die Anstrengungen zu verdoppeln. Oder man kapituliert. Das Wort ist negativ besetzt. Es klingt nach verlieren, nach versagen. Aber man kann es auch als Chance begreifen. Eine Möglichkeit, sich unbeschadet zurück zu ziehen, nicht alle Truppen in einen hoffnungslosen Kampf schicken, sich neu sortieren, sich frei machen, von den Erwartungen Anderer.

Und wenn du denkst
"Alles ist zum speien!"
Und so wie du jetzt bist
Willst du überhaupt nicht sein
Wenn du dir sicher bist
Niemand kann dich je verstehen:

Kapitulation

Inhaltlich finden wir nichts Neues, das wird auch bis zum Ende so bleiben. Pulver verschossen. Jetzt gilt es, das Bild mit Farben auszumalen.
Nett, wie die norddeutschen Musiker den süddeutsch verbreiteten Ausdruck „speien“ verwenden. und darauf die Zeile „so willst du nicht sein“ reimen. Erheiternd.
Auffällig, dass sich die jeweils letzten Zeilen der drei Strophen reimen. Für einen Song ist das zu weit auseinander, das Ohr erinnert sich dann nicht mehr. Aber das Auge nimmt so etwas als wohltuend strukturell wahr (nennt man übrigens Schweifreim). Ich glaube, dies lässt Rückschlüsse auf die Arbeitsweise zu.

Und wenn du traurig bist
Und einsam und allein
Wenn die Welt im Schlaf versunken ist
Du wirst es nie bereuen.
Wenn du denkst, "fuck it all
wie soll es weitergehen?":

Kapitulation

Ein Lyriker hätte sich diese Zeilen geklemmt. Aber Pop braucht Strophen. Wie gesagt: Inhaltlich kommt nichts Neues und so zentral „fuck it all“ auch in der Hamburger Schule verankert sein mag – das hatten wir schon.

Die Vögel im Baum
sie kapitulieren

Die Füchse im Bau
sie kapitulieren

Die Wölfe im Gehege
sie kapitulieren

Die Stars in der Manege
sie kapitulieren

Ich habe keine Ahnung wie die Tiere und die Stars in der Manege in den Text gekommen sind. Entweder die Texter haben sich treiben lassen oder es dient der Ironisierung. Vielleicht war es auch die Reihe Baum, Bau, Gehege, Manege, die es ihnen angetan hat.
Dabei ist der Reim von Manege auf Gehege natürlich kein Reim, auch wenn jede Reimmaschine im Internet ihn ausspucken würde. Der oberste Richter beim Reim ist nun einmal das Ohr und nicht das Auge. Berühmt ist das Beispiel von Goethe, der einmal „Ach, neige / du Schmerzenreiche“ reimte, was in seiner thüringischen Wahlheimat einen perfekten Reim ergab.

Alle, die die Liebe suchen
sie müssen kapitulieren

Alle, die die Liebe finden
sie müssen kapitulieren

An der Stelle muss jeder für sich entscheiden, wie er die oben genannten Gedanken zum Thema Kapitulation an sich heran lassen will. Wir alle wollen lieben und geliebt werden. Kann es dabei Sieger und Verlierer geben? Oder sind Kapitulierer die Besserliebenden?

Alle, die disziplinieren
sie müssen kapitulieren

Alle, die uns kontrollieren
sie müssen kapitulieren

Alle, die uns deprimieren
sie müssen kapitulieren

Lasst uns an alle appellieren
Wir müssen kapitulieren

Kapitulation

Na ja, da schlägt das Hamburger Schanzenviertel durch. Für viele Leute bedeutet links zu sein, die Faust nach oben zu recken und kräftig zu schütteln, aber die, die uns deprimieren, werden ja hoffentlich nicht Tocotronic selber sein.

Fazit: Tocotronic schreiben Texte, die sich schlau geben, es machmal sogar sind. Was davon bei „Kapitulation“ zutrifft, mag jeder selber entscheiden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen