Ich bin nicht der größte Rammsteinfan den die Welt je gesehen hat,
aber ich hege große Bewunderung und Respekt für die Band, die sich
einst aus der Asche von Feeling B erhob. Ich hatte das Glück, sie
erstmals 1995 als Vorgruppe von Sandow im Potsdamer Lindenpark
erleben zu können. Damals versuchte sich Till noch an Ansagen. Dies
war die einzige Schwäche einer Band, die wie eine Naturgewalt den
vermeintlichen Hauptakt von der Bühne fegte. Ihr Debüt „Herzeleid“
tat sich am Anfang schwer, die Band war ein Geheimtip und wurde in
Deutschland zunächst wenig beachtet. Als sie in Holland auf dem
Index landeten, schwappte eine Medienwelle zurück nach Deutschland
und es ging Berg auf. Mit dem zweiten Album „Sehnsucht“ und der
Single „Engel“ wurden sie nicht nur zu Superstars, sondern auch
zur meistdiskutierten Band Deutschlands. Das ganze Gedöns um die
Neue Deutsche Härte und ihr Spiel mit Rechtsextremismus (lange her) soll hier
außen vor bleiben.
Mit dem Titel „Sehnsucht“ verbindet
mich eine ganz persönliche Anekdote. Ich war 1997 in eigener Sache
unterwegs, denn es war gerade unser Album „Bannkreis“ erschienen.
Ich unterhielt mich mit einer sehr bekannten Promoterin über den
Titel und sie erzählte mir, dass sie den Titel sehr mochte, weil er
von Fernweh handeln würde und auch sie würde sich schon auf den
nächsten Urlaub freuen.
Alle, die auch dieser Meinung sind,
sollten an dieser Stelle aufhören zu lesen, es könnte sein, dass
die folgende Lektüre sonst als verstörendes Erlebnis enden wird.
Die Texte, die Till Lindemann für
Rammstein schreibt, bilden ein kleines, eigenes Universum. Ich bin
oft gefragt worden, ob ich nicht diesen oder jenen Text der
erfolgsverwöhnten Berliner Band interpretieren würde. Ich habe mich
lange davor gedrückt und tue mich auch hier schwer mit der Aufgabe.
Ich werde erklären warum: Till Lindemann ist ein sehr interessanter
Texter. Er arbeitet gern mit sauberen Reimen und zackigem Metrum.
Außerdem hat er ein Ohr für Wortspiele und wie jeder echte Ossi
auch ein Herz für Poesie. Till ist Baujahr 1963 und dürfte in
seiner Jugend ungefähr das gleiche Zeug wie alle anderen seiner
Genration in der DDR gehört haben: metaphernreiche Texte.
Der Stil, der sich bei ihm entwickelt
hat, geht in vielen Fällen über die bloße Metapher hinaus. Er
schreibt teilweise in Chiffren. Metaphern sind
Bedeutungsübertragungen. In den meisten Fällen erklären sie sich
von selber oder greifen auf allgemeine kulturelle Bezüge zurück,
die man schnell entschlüsseln kann. Wenn man den Mond als
angebissenes Stück Käse in der Himmelsfalle beschreiben würde,
dann wäre das eine astreine Metapher. Chiffren sind weit
komplizierter. Es sind verschlüsselte Inhalte, deren Interpretation
nur gelingt, wenn der Autor einem den entsprechenden Schlüssel in
die Hand gibt. Im Fall von Till Lindemann, der notorisch schweigsam
ist, gibt es sehr wenige Schlüssel. Außerdem ist er so unfair,
bestimmte Worte in unterschiedliche Chiffren zu verwandeln. So kann
eine Träne eben noch ein Ausdruck für Leid sein, im nächsten
Augenblick ist es Sperma oder, wie wir weiter unten sehen werden,
möglicherweise etwas ganz anderes.
Dies hat dazu beigetragen, dass es im
Netz ein nahezu unglaubliche Menge von Spekulationen,
Interpretationen und Blödsinn zum Thema Bedeutungen von
Rammsteintexten gibt. Mit meiner Besprechung von „Sehnsucht“
werde ich diesem Wust nur einen kleinen Partikel hinzufügen können,
allerdings ist es nur mein Versuch, mich einigen Chiffren in diesem
speziellen Text zu nähern und solange Till weiter schweigt, halten
wir uns wie echte Germanisten eben an den Text.
Da ich im Besitz des original Booklets
bin, kann jeder davon ausgehen, dass ich hier buchstabengetreu den
Text wiedergebe. Im Netz finden sich einige fehlerhafte Varianten.
Wie ich zeigen werde, können einzelne Buchstaben sehr wichtig sein.
Lass mich deine Träne reiten
übers Kinn nach Afrika
wieder in den Schoß der Löwin
wo ich einst zuhause war
zwischen deine langen Beine
such den Schnee vom letzten Jahr
doch es ist kein Schnee mehr da
übers Kinn nach Afrika
wieder in den Schoß der Löwin
wo ich einst zuhause war
zwischen deine langen Beine
such den Schnee vom letzten Jahr
doch es ist kein Schnee mehr da
So steht es im Booklet. Wichtig:
„Träne“ nicht „Tränen“ und „zwischen deine
langen Beine“ und nicht „zwischen deinen langen Beinen“.
Mein Interpretationsansatz ist nicht
Fernweh sondern Sex. Und zwar nicht Blümchensex sondern knallharter
Sex, der trotzdem keine Erfüllung bringt. Die Chiffren im ersten
Block sind Träne, Kinn, Afrika, Schoß der
Löwin. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um verschlüsselte
anatomische Angaben handelt. Die Reise geht über mehrere Stationen
und das lyrische Ich berichtet, wohin es gelangt: „zwischen deine
langen Beine“. Der Schoß der Löwin wäre demnach die
weibliche Schamgegend. Afrika
wäre ein südliche Region, die damit korrespondiert. Die Träne
bereitet mir Kopfzerbrechen. Eine zeitlang dachte ich es könnte sich
auf Grund der Form dabei um die Klitoris handeln. Immerhin steht die
Träne in der Einzahl und „deine Träne reiten“ wäre dann
selbsterklärend. Aber warum übers Kinn? Vielleicht beginnt
der Geschlechtsakt ja oral. Wie gesagt: Chiffren brauchen Schlüssel
und ich habe hier keinen parat.
Wenn wir uns Satzzeichen hinzudenken
würden, ginge das ganze Satzkonstrukt erst einmal bis einschließlich
Zeile 5, dann könnte man ein „Ich“ einfügen (das hat der Texter
wegrationalisiert, weil er im Metrum bleiben wollte) und neu
ansetzen.
„Ich such den Schnee...“ Hier also
die nächste Chiffre. Schnee
steht im allgemeinen für das Rauschmittel Kokain. Es ist ziemlich
naheliegend, dies auch als Interpretation anzuwenden. Kokain ist eine
Droge, die mit Sex kombiniert sehr stimulierend sein soll. Das
lyrische Ich im vorliegenden Text jedoch kommt so oder so nicht zum
ersehnten Rauschzustand. Es wäre aber auch möglich, hinter der
Chiffre Schnee Sperma zu vermuten. Vielleicht hat das lyrische
Ich nicht zum ersten Mal Sex mit der Person, in diesem Fall sollte
man sehr froh sein, wenn man keinen Schnee vorfindet.
Lass mich deine Träne reiten
über Wolken ohne Glück
der große Vogel schiebt den Kopf
sanft in sein Versteck zurück
zwischen deine langen Beine
such den Sand vom letzten Jahr
doch es ist kein Sand mehr da
über Wolken ohne Glück
der große Vogel schiebt den Kopf
sanft in sein Versteck zurück
zwischen deine langen Beine
such den Sand vom letzten Jahr
doch es ist kein Sand mehr da
Till Lindemann liebt es von Zeit zu
Zeit mechanisch vorzugehen. Das gesamte textliche Konstrukt
wiederholt sich, Zeile 1 und 5 sind identisch, in den letzen beiden
Zeilen wird wieder gesucht und nicht gefunden. Im Zusammenhang mit
der zu reitenden Träne verwandeln sich „Wolken ohne Glück“ auch
wieder in eine Chiffre, für die ich keine schlüssige Interpretation
habe. Das Gefühl, welches diese Zeile jedoch erzeugt ist klar: Die
Erfüllung, das Happy End, bleibt dem lyrischen Ich versagt. Dafür
macht es uns der Texter mit dem „großen Vogel“ recht einfach,
auch wenn die Gleichsetzung des männlichen Gliedes, das in eine
Vagina eindringt, mit dem Kopf eines Vogels (Strauß = langer nackter
Hals und Kopf?) wenig schmeichelhaft ist. Dafür ist der Sand wiederum noch
verwirrender als der Schnee aber er korrespondiert mit Afrika,
welches man sich klischeehaft als trockenes Land
vorstellt.
Sehnsucht versteckt
sich wie ein Insekt
im Schlafe merkst du nicht
dass es dich sticht
Sehnsucht versteckt
sich wie ein Insekt
im Schlafe merkst du nicht
dass es dich sticht
Recht spät startet der Refrain des
Liedes, diesmal nicht mit einer Chiffre sondern mit einem Gleichnis
und zwar mit einem etwas holprigem. Abstrakte Begriffe mit konkreten
Begriffen zu vergleichen, kann leicht in die Hose gehen. Sehnsucht
ist ein Gefühl. Wie soll es sich bitte unter einem Stein oder in
einer Baumritze verstecken? Aber da Insekten immer auf der Seite des
Teufels stehen und der Reim so schön knallt, geht das schon in
Ordnung. So sticht denn die Insekt gewordene Sehnsucht das lyrische
Ich im Schlafe und was ist das für eine Sehnsucht? Die Sehnsucht
nach Analverkehr! Denn:
Glücklich werd ich nirgendwo
der Finger rutscht nach Mexiko
doch er versinkt im Ozean
Sehnsucht ist so grausam
Sehnsucht
Spätestens seit Mickie Krauses „Finger
im Po, Mexiko“ wissen wir wo Mexiko auf der anatomischen Landkarte
liegt. Der Finger hat dort eine wichtige Rolle beim Vorspiel, der
Rest ist Schweigen. Leider beschert uns dieser Interpretationsansatz
die nächste Chiffre, denn in welchem Ozean versinkt der Finger? Nun,
ich glaube ich war schon deutlich genug, deshalb überlasse ich
dieses Rätsel dem geneigten und inzwischen sensibilisierten Leser.
Fazit: Keiner singt so gekonnt über
sexuelle Praktiken außerhalb der Norm wie Till Lindemann. Möglich
jedoch, dass das alles nur ein Missverständnis ist, denn auch
Rockstars machen gern mal Urlaub an weißen Stränden.
Nice !
AntwortenLöschenDie beste Interpretation die ich dazu gelesen habe!!!
AntwortenLöschenGenauso hab ich es auch gedeutet. Allerdings bin ich der Meinung dass es sich NUR um Analsex handelt. Meine Freundin konnte beim ersten hören nix mit dem Text anfangen. Dann hab ich den Tip mit Analsex gegeben und ihr den Song nochmal vorgespielt. Dann kam bei ihr der Aha-Effekt :-)
AntwortenLöschenKlasse ! Einfacher YouTube Kurs !
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Ich persönlich denke, dass "Schnee" und "Sand" für die Erfüllung und die Lust beim vaginalen Sex, die das lyrische Ich dabei früher empfunden hat, stehen. Ansonsten eine sehr gute Analyse.
AntwortenLöschen"Sehnsucht versteckt
AntwortenLöschensich wie ein Insekt
im Schlafe merkst du nicht
dass es dich sticht"
Damit versucht Till Lindemann meiner Meinung nach zu verdeutlichen, dass das Verlangen nach Analverkehr schleichend kommt und das lyrische Ich nicht von heute auf morgen vollkommen das Interesse an Vaginalsex verloren hat. Davon ausgehend denke ich nicht, dass die Personifikation des Gefühls Sehnsucht in diesem Fall fehl am Platz ist.