An
dieser Stelle ist eine Weile nichts passiert. Deutsche Texte sind in
der Zwischenzeit nicht besser geworden, aber irgendwie fehlte mir der
rechte Aufreger, um mich an die Tastatur zu setzen. Ein Entwurf zu
Max Giesingers 80-Millionen-Hit hatte ich schon in der Schublade, als
Jan Böhmermann mit „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ in genau
diese Kerbe schlug und mit seinem von Schimpansen „geschriebenen“
Text das ganze Elend der aktuellen Deutschpoeten gehörig teerte,
federte und durchs Dorf jagte.
Wieder
einmal war es dann der kurz-vor-neun-Musikakt im Frühstücksfernsehen des
ZDF, der mich auf den hier anhängigen Text aufmerksam machte. Eine
Künstlerin namens Amanda performte das billige Imitat von etwas, das
offensichtlich als Sommerhit konzipiert wurde.
Der
wieder einmal erhellende Blick in die GEMA Datenbank brachte eine
erstaunliche Anzahl von beteiligten Künstlern ans Licht und ich kann
nicht anders, ich muss darauf eingehen.
Nr.
1: Murray, Amanda Nenette
Die
Interpretin selbst hat also mitgeschrieben. Ihre Biografie erwähnt
ein frühes Talent, welches schon im zarten Alter von acht Gedichte
und Geschichten hervorzauberte. Das coole Altsaxophon und späteres
Gitarrenspiel, welches angeblich mit Leidenschaft betrieben wurde,
ebneten den Weg zum Hip-Hop, dessen deutsche Szene sie zunächst
unter dem Künstlernamen She-Raw bereicherte. Ein Job als
Radiomoderatorin brachte sie den ganz Großen der Musikszene näher,
mit gravierenden Folgen für ihre Karriere und die deutsche
Musiklandschaft.
Nr.
2: Bauss, Christoph
Künstlername
Shuko, ist ein deutscher Hip-Hop und Pop Komponist und Produzent, mit
anderen Worten: der Mann für die Beats.
Nr.
3: Geldreich, Michael
Dieser
Mainzer Musikproduzent mit dem genialen Nachnamen scheint vor allem
für die Noten zuständig gewesen zu sein, immerhin studierte er
Klavier und Bass und leitet seitdem sein eigenes
Musikproduktions-Studio und ist Gründer des elektronischen
Jazz-Projekts "Rufus Dipper".
Michael
schrieb und produzierte unter anderem schon Musik für Felix Jaehn,
Cro, Milow, Mark Forster, Herbert Grönemeyer, Julian Perretta, Rufus
Dipper und Leslie Clio.
Nr.
4: Kalmbacher, Julius
In
frühen Jahren bekam er Unterricht am Klavier und an der Gitarre.
Später kam Gesangsunterricht hinzu. Nach dem Abitur studierte er
zunächst Musikwissenschaften an der Universität Heidelberg,
sattelte aber später auf die Popakademie Baden Württemberg um. Seit
2012 betreibt er als Musikproduzent ein eigenes Tonstudio in Mannheim
innerhalb der Naidoo Herberger Tonstudios. Er komponiert Filmmusik,
schreibt Songs und spielt in verschiedenen Bands.
Nr.
5: Ćwiertnia, Mark
Besser
bekannt als Mark Forster, Hitsänger aus Leidenschaft, Liebling der
Medien, Freund der Kinder.
Nr.
6: Würdig, Paul
Der
Welt auch bekannt als Sido, über dessen Künstlernamen verschiedene
Geschichten kursieren, von denen eine besagt, er bedeute
„super-intelligentes Drogenopfer“, er könnte aber auch für
„Scheiße in dein Ohr“ stehen. Der mündige Leser möge selbst
entscheiden.
Man
stelle sich diese geballte Macht an Talent und Erfahrung in einem
Raum vor! Christoph schmeißt den Drumcomputer an (96 BPM), Michael
und Julius setzen sich vierhändig ans Klavier, Mark und Paul zücken
die Stifte, rappen und singen spontan über den Frust der kleinen
Leute, die unter der Knute eines widerlichen Chefs bei der Büroarbeit
schwitzen müssen, wo doch draußen der Himmel so schön blau ist.
Und Amanda bläst dazu versonnen ein paar Melodiebögen auf ihrem
Altsaxophon. Plötzlich ist Magie im Raum, alle sehen sich an, ein
Strahlen breitet sich auf ihren Gesichtern aus. Eben wurde
Musikgeschichte geschrieben und wahrscheinlich auch eine Menge Geld
verdient.
Ich
glaub', ich bin sprunghaft
Ich
mach' gern Neues und das jeden Tag
Ich
leb' von Luft und Liebe
Ich
komm' auch ohne viel Kohle klar
Wenn
man nichts zu sagen hat, geht man auf Nummer sicher, wenn man mit
einem fetten Klischee beginnt. Ich bin so spontan, geradezu
sprunghaft, probier gern Neues aus. Ja, und Kohle bedeutet mir gar
nichts, ich brauch nur Luft und Liebe. Käme noch Wasser hinzu, wäre
es eine astreine Fastenkur. Ohne Wasser dürfte nach drei Tagen das
Licht ausgehen, aber wenigstens wurde man geliebt, wahrscheinlich von
seinen Hörern.
Und Mister Chef sagt: „So
läuft's nicht!
Streng dich an, denn Arbeit
muss sein!“
Doch ich bin gegen Regeln
allergisch
Will mich entfalten und
einfach ich bleiben
Wie
soll das gehen? Sich entfalten und gleichzeitig einfach man selbst
bleiben? Ist nicht Veränderung das, was unser Leben bereichert, vor
allem wenn man gern Neues macht, und das jeden Tag?
Schuld
ist ja vor allem Mister Chef. Arbeit muss sein? Was für'n Blödmann,
sieht der denn nicht, dass man gegen Regeln allergisch ist? Zehn
Gebote, vor dem Essen Hände waschen, Kinder nicht vor den Bus
schubsen – nicht mit diesem lyrischen Ich.
Montag
bis Freitag immer das Gleiche
Immer
nur ackern – nein, Mann, es reicht jetzt!
Ich
will nicht warten auf'n Feierabend
Will
lieber los und gleich was starten
Genau!
Wer hätte dafür nicht Verständnis, wenn die Müllabfuhr mal nicht
kommt, der Chirurg mitten in der Operation das Skalpell fallen lässt,
die Berliner Szenekneipe am Samstag geschlossen bliebe.
Komm,
sei doch ehrlich!
Du
bist wie ich, du hast auch kein'n Bock
Also
lass geh'n!
Mach
Stopp!
Moment!
Jetzt werden wir alle mit verhaftet. Das lyrische Ich ruft zur
Anarchie auf. Ist das schon Volksverhetzung? Nein, natürlich nicht.
Zitat Pressetext: eine Hommage an das Blaumachen und Laissez-faire.
Hey!
Guck, der Himmel ist blau
Komm,
das machen wir auch
Das
war die magische Zeile, die, die das Leuchten in die Gesichter
zauberte. Was für ein herrliches Wortspiel, welch zauberhaftes
Bonmot! Für meinen Geschmack etwas holprig, denn das Blau des
Himmels ist ein Zustand und wenn wir Menschen auch blau sein wollten
wie er, wären wir nach stehender Redewendung besoffen.
„Blau
machen“ wiederum kommt von den Färbern. Die legten die Stoffe, die
sie färben wollten, am Sonntag in ein Färbebad. Montags wurde die
gefärbte Wolle dann aus dem Bad genommen und an der Luft getrocknet.
Die besondere Farbe, die damals verwendet wurde, zeigte eine
chemische Reaktion mit der Luft und wurde blau. Während die Wolle an
der Luft trocknete und blau wurde, hatten die Färbergesellen nichts
zu tun, also konnten sie ganz in Ruhe "blau machen" - und
zwar die Wolle.
Mann,
dein Laptop ist grau
Klapp
ihn zu! Mach ihn aus!
Guck,
der Himmel ist blau
Komm,
das machen wir auch
„Der
Laptop ist grau...“ Über diese Zeile habe ich lange nachgegrübelt.
Entsprechende Modelle, wie sie im Studio erfolgreicher Hitproduzenten
herumstehen, sind in der Regel silber und haben ein Osbstlogo. Der
einzige Grund für ein Modell in grau ist also der Wunsch, einem Reim
zu produzieren. Warum das so wichtig ist? Es ist nach Bock/Stopp erst
der zweite reine Reim im ganzen Text. Tusch!
Ich
glaub', man muss sich nur trau'n
Tür
auf und raus und
Blau!
Bla-blau!
Bla-blau!
Bla-blau!
Hier
zeigen die Jungs und die Künstlerin zum ersten Mal wirklich Klasse:
Mit dem Kunstgriff, den Songtitel Blau mit dem onomatopoetischen
Blabla zu verbinden, gelingt ihnen ein pfiffiger, wertvoller Beitrag
zur Kritik am heutigen Pop-Geschäft, welches sie allesamt heimlich
verachten. Hier wird echte Haltung gezeigt und dem bisher
eindimensionalen Text eine weitere, sehr viel tiefere Ebene
hinzugefügt. Respekt.
Mein
Gott, mein Kopf
Ich
würd' gern abschalten, doch ich finde kein'n Knopf
Ich
hab' kein'n Bock, aber keine Zeit
Und
in der Mensa gibt's schon wieder diesen Einheitsbrei
,Warum
heute?‘, denkt mein Körper sich
,Warum
mach' ich das? Warum surf' ich nicht?
Warum
sitz' ich hier und schwitze bis in jede Ritze?
Ich
wär' lieber draußen bei der Hitze!‘
Okay,
ich klapp' den Laptop zu
Ich
mach' Feierabend – jetzt kommst du!
Mein
Chef: „Das geht nicht!“, ich sag': „Na, dann pass auf!“
Ich
bin kein Maler, doch ich mach' blau
Interessant,
dass nicht nur der Interpret von Amanda zu Sido wechselt. Auch das
lyrische Ich ist jetzt ein anderes, denn während in der ersten
Strophe im Büro geschwitzt wurde befinden wir uns jetzt
offensichtlich in einer höheren Schule, denn nur dort gibt es eine
Mensa (verkürzt aus mensa academica „Universitätsmittagstisch“
von lateinisch mensa „Tisch, Tafel“) und graue Laptops.
In
dieser Strophe wird zumindest etwas gereimt, die Klasse eines Sido
lässt sich eben nicht verleugnen.
Ich
sitze in der Hitze und schwitze bis in jede Ritze. Und dann lagen wir
auf der Veranda übernanda.
Der
Rest des Songs – wie üblich bei diesem Format – ist Refrain und
(systemkritisches) Blabla.
Fazit:
Hätten die sechs an diesem Song beteiligten Künstler doch an diesem
Tag nur blau gemacht!