Mit „Ich lebe“
fing für Christina Stürmer 2003 alles an. Die junge Sängerin wurde
in diesem Jahr zwar nur Zweite in der österreichischen Castingshow
Starmania, aber für einen Plattenvertrag reichte es trotzdem. Die
hier zu besprechende Single ging in Österreich durch die Decke und
belegte dort neun Wochen hintereinander den ersten Platz. In
Deutschland wurde das Lied erst zwei Jahre später veröffentlicht,
sorgte aber auch in Deutschland dafür, dass Christina der Weg für
eine beachtliche und andauernde Karriere geebnet wurde. 2006 bekam
sie dafür sogar den Echo Künstlerin Rock/Pop National und nur ein
Schelm würde an dieser Stelle fragen, ob in den Büros der
Plattenindustrie noch Karten von Deutschland in den Grenzen von 1942
hängen.
Den Song „Ich
lebe“ habe ich sicherlich schon oft gehört und wie es bei
fluffigen Kompositionen dieser Art oft ist, habe ich nie wirklich auf
den Text geachtet. Auf der Suche nach neuem Material für meine
Textkritiken fiel mir dann irgendwann auf, dass der Text es in sich
hat. Ein kurzer Blick in die GEMA Datenbank verrät, dass hier drei
Komponisten eingetragen sind, die auch alle als Textdichter
aufgeführt sind, plus ein zusätzlicher Texter. Viele Köche also.
Es lohnt sich,
zunächst weiter unten den Refrain zu betrachten. Die erste Zeile „Ich lebe,
weil du mein Atem bist“ bildet den Kern der Textidee. Der Refrain
endet mit den Worten „Du bist für mich mein zweites ich. Ich
lebe.“ Damit wird eine saubere Klammer geschlossen. Im Refrain
stehen bekanntlich die wichtigen Sachen. Wir haben es also mit einem
Text zu tun, in dem das lyrische Ich eine Abhängigkeit von einem
Partner propagiert. Der Text versucht allerdings, den Rahmen eines
simplen Liebesliedes zu sprengen. Die Texter vollziehen den Schritt
von der Abhängigkeit zur Sucht. Das Lied enthält einige seltsame,
negative Konnotationen, die an einigen Stellen – zumindest bei mir
– für gehörige Verwirrung sorgen. Man hat die Künstlerin
Christina Stürmer offensichtlich als junge Frau inszenieren wollen,
die voller Widersprüche steckt und sich gängigen Klischees
entzieht.
Du bist die Qual
Ich war schon
immer Masochist
Bringst mir kein
Glück
Ich bin und
bleibe Pessimist
Schmeckst
bittersüss
Saugst mich aus
wie ein Vampir
Ich bin verhext
Komm einfach
nicht mehr los von dir
Solch ein
Aneinanderreihungstext ist für einen Texter eine höchst dankbare
Aufgabe. Es reicht eine Grundidee, die man nur durchdeklinieren muss.
Allerdings ist die Deklination hier ein holpriges Thema. Es werden
Paare gebildet, die alle unter dem Dach Beziehung/Abhängigkeit/Sucht
funktionieren sollen.
Beim ersten Paar
wird ein abstrakter Begriff auf eine Person übertragen. Abstrakte
Begriffe sind tückisch, denn weil sie abstrakt sind, lassen sie sich
nur sehr schwer auf Dinge oder Personen übertragen. Hausaufgabe:
Bilde Paare mit Freiheit, Schicksal, Zweifel, stelle dir die Qual als
Person vor.
Da funktioniert das
zweite Paar schon besser, denn der Partner ist nun nicht das
Glück, nein, er bringt es nicht mit und das passt gut zum
Pessimisten.
Die dritte Paarung
geht dafür meiner Meinung nach voll nach hinten los. Wieso weiß das
lyrische Ich, dass der Problempartner bittersüß schmeckt, wenn der
doch der Vampir ist, der am lyrischen Ich saugt? Antwort: Das
lyrische Ich ist auch ein Vampir. Klar. Und es klebt verhext (Bibi
Blocksberg, Hogwarts und Baba Jaga lassen grüßen) am
Problempartner.
Ich lebe
Weil du mein Atem
bist
Bin müde
Wenn du das
Kissen bist
Bin durstig
Wenn du mein
Wasser bist
Du bist für mich
mein zweites Ich
Ich lebe
Auf die Klammer
(Anfang und Ende des Refrains) habe ich schon hingewiesen. Dazwischen
finden wir – wie in der Strophe – weitere Paarungen. Was mich
stört ist die Wenn-Konstruktion, bei der die Kausalität ausgehebelt
wird. Es wäre ja schön, wenn der Partner das Kissen ist, wenn man
müde ist, oder das Wasser, wenn man Durst hat. Aber wieso ist man
müde wenn der
Partner das Kissen ist? Der ein oder andere wird sagen: Stört mich
nicht, ich verstehe was gemeint ist. Derjenige müsste aber auch
folgende Logik akzeptieren: Ich habe Durchfall, wenn du das Imodium
akut bist.
Du bist das Gift
Doch das
Gegengift wirkt gegen mich
Du bist das Geld
Ich geb dich aus
es lohnt sich nicht
Du bist der
Rausch
Und ich will noch
mehr Alkohol
Du bist die Welt
Wo Schatten Licht
gefangen hält
Inzwischen dürften
alle verstanden haben, worauf ich hinaus will. Wenn man die Zeilen
genau liest und auf ihre Alltagsbelastbarkeit hin überprüft,
schleichen sich Falten auf die Stirn und das ist nicht gut für
jugendlich frisches Aussehen. Am besten gefällt mir, dass der
Partner die Welt ist, wo Schatten Licht gefangen hält. Die
Schlüsselwörter klappern hier wieder einmal schön aufgeregt
durcheinander und wenn man so etwas nebenbei hört könnte man fast
denken es wäre Poesie. Leider ist es nur sinnentleertes Geschwurbel.
Ich steh' hier
allein, gedankenleerer Horizont
Du bist verliebt
– wie schön für dich, warum sagst du's nie
Nach einem zweites
Refrain kommt ein schöner C-Part. Entweder wurde der im Studio von
Christina selbst improvisiert oder es war schon spät und man hatte
sich an der ganzen Pseudopoesie schon so verausgabt, dass es nur noch
für das grundsolide „ich stehe hier allein“ reichte. Und was
macht man wenn man allein ist? Man schaut auf einen gedankenleeren
Horizont, von dem nur Komponisten/Texter wissen, was das bitte sein
soll. Ich vermute es befand sich zu diesem Zeitpunkt in ihren Köpfen:
Ein geistiger Horizont, leer von irgendwelchen originellen Gedanken.
Die Zweite Zeile ist
erfrischend echt und lebensnah und damit seltsam fremd in diesem
Text.
Komm lebe
Weil ich dein
Atem bin
Sei müde
Wenn ich dein
Kissen bin
Sei durstig
Wenn ich dein
Wasser bin
Ich bin für dich
dein zweites Ich
Ich lebe, bin
müde, bin durstig,
Du bist für mich
mein zweites Ich
Wie es sich für ein
waschechtes zweites Ich gehört kann alles was bisher gesagt wurde
auch gespiegelt werden. Auf diesen Kunstgriff wollte das Autorenteam
nicht verzichten.
Fazit: Das
Verhältnis von lyrischen Ich und Problempartner ist den ganzen Song
über schwierig. Schwierig im vermeintlich echten Leben, von dem der
Text abgeschaut sein soll und schwierig in der Interpretation.