Dienstag, 10. Juni 2014

Gleis 8 „Wer ich bin“


Die heutige Reise beginnt mit einem Rätsel: Wie viele Kreative braucht es, um einen Text zu schreiben, der aus 10 Zeilen und 40 Fragen besteht (wobei es nicht 40 verschiedene Fragen sind sondern nur 4)? Na, jemand eine Ahnung? Einen Germanistikstudenten im ersten Semester? Zwei Praktikanten bei einem Onlinemagazin für Heilpädagogik? Drei ordentliche GEMA Mitglieder? Eigentlich hatte ich Andrea Neuenhofen im Verdacht, die besser unter ihrem Pseudonym AnNa R. (R übrigens, weil sie eine geborene Rosenbaum ist) bekannt ist. Andrea hat früher bei Rosenstolz geträllert. Die aber haben nach eigener Verlautbarung viel miteinander geredet, gelacht und geweint und haben festgestellt, dass sie so viel verbindet und sie zusammen so viel erlebt und erreicht haben, dass es zur Zeit der schönste Moment ist, einander Raum zu geben. Im Klartext: Sie gehen sich gerade gehörig auf den Sack, den sie im übrigen längst zu haben. Künstlerinnen vom Format einer AnNa R. sitzen natürlich nicht gern allein zu Hause rum, da wird man nur depressiv und dick. Also gründen sie flugs eine Band und veröffentlichen munter weiter Schallplatten.
Der vorliegende Text ist vom Debüt der Gruppe Gleis 8, welches heuer erschienen ist.
Um auf die Frage zurückzukommen: Ganz offensichtlich 5. In der Datenbank der GEMA ist nicht nur die gesamte Band, also drei Musiker plus Frau Neuenhofen, als Texter eingetragen, sondern noch ein weiterer ominöser fünfter Mann. Und obwohl das gar nichts zur Sache tut, ist es doch einfach zu schön, um unerwähnt zu bleiben: Sechs Verlage verwalten diesen Song! „HÜTET EUCH VOR VERLAGEN!“ möchte ich allen zurufen, die erste Schritte in den Dschungel des Musikgeschäftes wagen, sie sind wie Zecken, tun den ganzen Tag nichts außer auf Beute warten, um dann Blut zu saugen, bis ihnen der Leib schwillt.
Nun, wie und wo der Text entstanden ist, wird auf ewig Geheimnis der fünf Betroffenen bleiben, bei 10 Zeilen und 4 Fragen wird sich das Ganze wahrscheinlich des nächtens besoffen im Studio zugetragen haben, aber bevor wir vorschnell Vorurteilen schauen wir einfach genau hin.

Du legst deine Hand auf mich
Dein Atem trifft mich mitten ins Gesicht
Du legst deinen Arm um mich
Du legst dein Gewicht auf mich
Du sprichst ein „ich liebe dich“ für mich

Ist das nicht ätzend? Jede einzelne Zeile ein Hammerschlag. Wenn man eine Hand auf jemanden legt, dann beschränkt sich das meist auf einen Körperteil. Interessanterweise hat jede diesbezügliche Geste eine eigene Konnotation. Legt man jemandem die Hand auf die Schulter ist es eine freundschaftliche Geste, legt man sie auf den Arm ist es beruhigend, legt man sie auf eine andere Hand ist es tröstend. Sie einfach auf jemanden im Ganzen zu legen, macht insofern Probleme, weil es eine sehr große Hand sein müsste.
Dann: „Dein Atem trifft mich mitten ins Gesicht.“ Geht es noch ekliger? Und nachdem noch ein Arm um das lyrische Ich gelegt und es mit dem Gewicht des Partners niedergedrückt wurde, wird ein „Ich liebe Dich“ gesprochen. Wohlgemerkt nicht geflüstert oder gehaucht, es wird gesprochen. Die ganze Szene wirft Fragen auf, die bekommen wir nun satt.

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?


Ich habe das nicht gekürzt. Kann man effektiver texten? Kaum. Sicher, Popmusik lebt von der Wiederholung und musikalisch macht das auch alles Sinn. Übrigens geißelte schon Bastian Sick die Phrase „das macht Sinn“ als das was es ist: Schlechtes Deutsch. Die Übertragung aus dem englischen „that makes sense“ macht im Deutschen nämlich keinen Sinn, denn "Sinn" und "machen" passen einfach nicht zusammen. Das Verb "machen" hat die Bedeutung von fertigen, herstellen, tun, bewirken; es geht zurück auf die indogermanische Wurzel mag-, die für "kneten" steht. Das erste, was "gemacht" wurde, war demnach Teig. Etwas Abstraktes wie Sinn lässt sich jedoch nicht kneten oder formen. Er ist entweder da oder nicht. Man kann den Sinn suchen, finden, erkennen, verstehen, aber er lässt sich nicht im Hauruck-Verfahren erschaffen. (Quelle: Zwiebelfisch)
Diese kleine Abschweifung war notwendig, damit in diesem Text wenigstens etwas Erhellendes vorkommt.

Meine Haut und deine Haut treffen sich
Dein und mein Gesicht.
Unsre
Schatten erkennen sich
Legen sich über sich
Jeder spricht ein „ich
liebe dich“ für sich

Jetzt wird also geschnackselt und ziemlich diffus drum herum geredet. Machen wir uns doch einfach den Spaß und nehmen das Geschriebene mal wörtlich: Wir stellen uns vor, wie sich die Häute zweier Menschen treffen, in der Stadt, auf einen Kaffe, anschließend wird noch shoppen gegangen. Genau das Gleiche bitte auf „unsere Schatten erkennen sich“ anwenden. Hallo, wie kann man so einen Quatsch schreiben? Dieses „jemanden erkennen“ gehört in die Schublade „züchtige Umschreibung für Sex“. Da läuft man nicht Gefahr, vom Formatradio aussortiert zu werden und hat es dennoch faustdick hinter den Ohren. Ganz toll.
Diesmal spricht jeder ein „ich liebe dich für sich“. Ich hab es mal ausprobiert, es geht nur wenn man alleine ist. Was will uns also der Dichter damit sagen? Keine Ahnung, vielleicht, dass sich hier nur jeder selber liebt.

Eine Anmerkung zum Thema Reim, obwohl es so traurig ist, dass ich es gern überspringen würde: In der ersten Strophe wird vier mal „mich“ unsauber auf „Gesicht“ gereimt, in der zweiten Strophe dann vier mal unsauber „sich“ erneut auf „Gesicht“. Die Refrainzeilen enden ausnahmslos reimfrei auf „bin“, später auf „sind“. Noch öder geht es kaum.

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?


An dieser Stelle kommt ein musikalischer Teil, der uns die Zeit vertreibt, bis der Refrain noch einmal wiederholt wird. Und weil es ein Lied mit sehr hohem textlichen Anspruch ist, wechselt ab der Hälfte dann das „ich“ zum „wir“. Man möchte jubeln.

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?

Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?

Aber weißt du wer wir sind?
Weißt du wirklich wer wir sind?
Weißt du wer wir sind?
Wer wir sind ?

Weißt du wer wir sind?
Weißt du wirklich wer wir sind?
Weißt du wer wir sind?
Was wir nicht sind?

Spätestens jetzt hat uns Frau Neuenhofen ins Koma gesungen. Weist du wer ich wirklich bin, wer wir wirklich sind, was ich nicht bin, was wir nicht sind? Das ist zusammengefasst die Palette der Fragen, die bis jetzt unbeantwortet geblieben sind. Dass diese Fragen mit so großer Eindringlichkeit gestellt werden, immer wieder wird ein nachdrückliches „wirklich“ bemüht, lässt mich vermuten, dass es hier um ganz existentielle Dinge gehen muss. Also raffen wir uns noch einmal auf, halten Rückschau und fassen die ganze Szene noch einmal zusammen: Das lyrische Ich und ein Partner schnackseln auf unromantische und wenig liebevolle Weise. Das lyrische Ich will in genau dieser Situation vom Gegenüber wissen, ob es weiß, wer es wirklich ist. Und die Antwort lautet? Trommelwirbel: Wir wissen nicht wer du bist, aber wenigstens wissen wir was du bist: Eine Nervensäge.

Fazit: Wozu Mühe geben, wenn ein aufgeblasenes Nichts doch allemal für einen Ohrwurm taugt.