Die heutige Reise beginnt mit einem
Rätsel: Wie viele Kreative braucht es, um einen Text zu schreiben,
der aus 10 Zeilen und 40 Fragen besteht (wobei es nicht 40
verschiedene Fragen sind sondern nur 4)? Na, jemand eine Ahnung?
Einen Germanistikstudenten im ersten Semester? Zwei Praktikanten bei
einem Onlinemagazin für Heilpädagogik? Drei ordentliche GEMA
Mitglieder? Eigentlich hatte ich Andrea Neuenhofen im Verdacht, die
besser unter ihrem Pseudonym AnNa R. (R übrigens, weil sie eine
geborene Rosenbaum ist) bekannt ist. Andrea hat früher bei
Rosenstolz geträllert. Die aber haben nach eigener Verlautbarung
viel miteinander geredet, gelacht und geweint und haben festgestellt,
dass sie so viel verbindet und sie zusammen so viel erlebt und
erreicht haben, dass es zur Zeit der schönste Moment ist, einander
Raum zu geben. Im Klartext: Sie gehen sich gerade gehörig auf den
Sack, den sie im übrigen längst zu haben. Künstlerinnen vom Format
einer AnNa R. sitzen natürlich nicht gern allein zu Hause rum, da
wird man nur depressiv und dick. Also gründen sie flugs eine Band
und veröffentlichen munter weiter Schallplatten.
Der vorliegende Text ist vom Debüt der
Gruppe Gleis 8, welches heuer erschienen ist.
Um auf die Frage zurückzukommen: Ganz
offensichtlich 5. In der Datenbank der GEMA ist nicht nur die gesamte
Band, also drei Musiker plus Frau Neuenhofen, als Texter eingetragen,
sondern noch ein weiterer ominöser fünfter Mann. Und obwohl das gar
nichts zur Sache tut, ist es doch einfach zu schön, um unerwähnt zu
bleiben: Sechs Verlage verwalten diesen Song! „HÜTET EUCH VOR
VERLAGEN!“ möchte ich allen zurufen, die erste Schritte in den
Dschungel des Musikgeschäftes wagen, sie sind wie Zecken, tun den
ganzen Tag nichts außer auf Beute warten, um dann Blut zu saugen,
bis ihnen der Leib schwillt.
Nun, wie und wo der Text entstanden
ist, wird auf ewig Geheimnis der fünf Betroffenen bleiben, bei 10
Zeilen und 4 Fragen wird sich das Ganze wahrscheinlich des nächtens
besoffen im Studio zugetragen haben, aber bevor wir vorschnell
Vorurteilen schauen wir einfach genau hin.
Du legst deine Hand auf mich
Dein Atem trifft mich mitten ins
Gesicht
Du legst deinen Arm um mich
Du legst deinen Arm um mich
Du legst dein Gewicht auf mich
Du sprichst ein „ich liebe dich“ für mich
Du sprichst ein „ich liebe dich“ für mich
Ist das nicht ätzend? Jede einzelne
Zeile ein Hammerschlag. Wenn man eine Hand auf jemanden legt, dann
beschränkt sich das meist auf einen Körperteil. Interessanterweise
hat jede diesbezügliche Geste eine eigene Konnotation. Legt man
jemandem die Hand auf die Schulter ist es eine freundschaftliche
Geste, legt man sie auf den Arm ist es beruhigend, legt man sie auf
eine andere Hand ist es tröstend. Sie einfach auf jemanden im Ganzen
zu legen, macht insofern Probleme, weil es eine sehr große Hand sein
müsste.
Dann: „Dein Atem trifft mich mitten
ins Gesicht.“ Geht es noch ekliger? Und nachdem noch ein Arm um das
lyrische Ich gelegt und es mit dem Gewicht des Partners
niedergedrückt wurde, wird ein „Ich liebe Dich“ gesprochen.
Wohlgemerkt nicht geflüstert oder gehaucht, es wird gesprochen. Die
ganze Szene wirft Fragen auf, die bekommen wir nun satt.
Aber weißt du wer ich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Wer ich wirklich bin?
Ich habe das nicht gekürzt. Kann man
effektiver texten? Kaum. Sicher, Popmusik lebt von der Wiederholung
und musikalisch macht das auch alles Sinn. Übrigens geißelte schon
Bastian Sick die Phrase „das macht Sinn“ als das was es ist:
Schlechtes Deutsch. Die Übertragung aus dem englischen „that makes
sense“ macht im Deutschen nämlich keinen Sinn, denn "Sinn"
und "machen" passen einfach nicht zusammen. Das Verb
"machen" hat die Bedeutung von fertigen, herstellen, tun,
bewirken; es geht zurück auf die indogermanische Wurzel mag-, die
für "kneten" steht. Das erste, was "gemacht"
wurde, war demnach Teig. Etwas Abstraktes wie Sinn lässt sich jedoch
nicht kneten oder formen. Er ist entweder da oder nicht. Man kann den
Sinn suchen, finden, erkennen, verstehen, aber er lässt sich nicht
im Hauruck-Verfahren erschaffen. (Quelle: Zwiebelfisch)
Diese kleine Abschweifung war
notwendig, damit in diesem Text wenigstens etwas Erhellendes
vorkommt.
Meine Haut und deine Haut treffen sich
Dein und mein Gesicht.
Unsre Schatten erkennen sich
Legen sich über sich
Jeder spricht ein „ich liebe dich“ für sich
Jetzt wird also geschnackselt und
ziemlich diffus drum herum geredet. Machen wir uns doch einfach den
Spaß und nehmen das Geschriebene mal wörtlich: Wir stellen uns vor,
wie sich die Häute zweier Menschen treffen, in der Stadt, auf einen
Kaffe, anschließend wird noch shoppen gegangen. Genau das Gleiche
bitte auf „unsere Schatten erkennen sich“ anwenden. Hallo, wie
kann man so einen Quatsch schreiben? Dieses „jemanden erkennen“
gehört in die Schublade „züchtige Umschreibung für Sex“. Da
läuft man nicht Gefahr, vom Formatradio aussortiert zu werden und
hat es dennoch faustdick hinter den Ohren. Ganz toll.
Diesmal spricht jeder ein „ich liebe
dich für sich“. Ich hab es mal ausprobiert, es geht nur wenn man
alleine ist. Was will uns also der Dichter damit sagen? Keine Ahnung,
vielleicht, dass sich hier nur jeder selber liebt.
Eine Anmerkung zum Thema Reim, obwohl
es so traurig ist, dass ich es gern überspringen würde: In der
ersten Strophe wird vier mal „mich“ unsauber auf „Gesicht“
gereimt, in der zweiten Strophe dann vier mal unsauber „sich“
erneut auf „Gesicht“. Die Refrainzeilen enden ausnahmslos
reimfrei auf „bin“, später auf „sind“. Noch öder geht es
kaum.
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
An dieser Stelle kommt ein musikalischer Teil, der uns die Zeit vertreibt, bis der Refrain noch einmal wiederholt wird. Und weil es ein Lied mit sehr hohem textlichen Anspruch ist, wechselt ab der Hälfte dann das „ich“ zum „wir“. Man möchte jubeln.
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
An dieser Stelle kommt ein musikalischer Teil, der uns die Zeit vertreibt, bis der Refrain noch einmal wiederholt wird. Und weil es ein Lied mit sehr hohem textlichen Anspruch ist, wechselt ab der Hälfte dann das „ich“ zum „wir“. Man möchte jubeln.
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Wer ich wirklich bin?
Aber weißt du wer ich bin?
Weißt du wirklich wer ich bin?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
Aber weißt du wer wir sind?
Weißt du wer ich bin?
Was ich nicht bin?
Aber weißt du wer wir sind?
Weißt du wirklich wer wir
sind?
Weißt du wer wir sind?
Wer wir sind ?
Weißt du wer wir sind?
Weißt du wirklich wer wir sind?
Weißt du wer wir sind?
Was wir nicht sind?
Weißt du wer wir sind?
Wer wir sind ?
Weißt du wer wir sind?
Weißt du wirklich wer wir sind?
Weißt du wer wir sind?
Was wir nicht sind?
Spätestens jetzt hat uns Frau
Neuenhofen ins Koma gesungen. Weist du wer ich wirklich bin, wer wir
wirklich sind, was ich nicht bin, was wir nicht sind? Das ist
zusammengefasst die Palette der Fragen, die bis jetzt unbeantwortet
geblieben sind. Dass diese Fragen mit so großer Eindringlichkeit
gestellt werden, immer wieder wird ein nachdrückliches „wirklich“
bemüht, lässt mich vermuten, dass es hier um ganz existentielle
Dinge gehen muss. Also raffen wir uns noch einmal auf, halten
Rückschau und fassen die ganze Szene noch einmal zusammen: Das
lyrische Ich und ein Partner schnackseln auf unromantische und wenig
liebevolle Weise. Das lyrische Ich will in genau dieser Situation vom
Gegenüber wissen, ob es weiß, wer es wirklich ist. Und die Antwort
lautet? Trommelwirbel: Wir wissen nicht wer du bist, aber wenigstens
wissen wir was du bist: Eine Nervensäge.
Fazit: Wozu Mühe geben, wenn ein
aufgeblasenes Nichts doch allemal für einen Ohrwurm taugt.